Was muss da schon alles passiert sein?

EisbergUnd wie ging es weiter? Diese Frage stellt man sich gerade als Mediator unwillkürlich, wenn man bei dem juristischen Informationsportal Rechtsindex den heutigen Artikel übr ein Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 11.12.2001 (5 S 60/01) liest.

Da hat ein Mensch seinen Nachbarn verklagt und eine Ruhezeit von 20 Uhr bis 7 Uhr in einem Radius von 25 m um sein Haus verlangt, weil jener Nachbar doch tatsächlich innerhalb von 5 Monaten 65 mal die Türen seines PKW nach 20 Uhr lautstark zugeschlagen hat. Das ist ja immerhin an jedem zweiten bis dritten Tag. Da geht meine Fantasie mit mir durch. Wie zerrüttet muss das Verhältnis zwischen diesen beiden Nachbarn sein, dass man darauf lauscht, wie oft der Nachbar die Tür seines Autos zuschlägt (bei meinen Nachbarn habe ich darauf bis heute noch nie geachtet). Und dass man dann gleich das Gericht bemüht, um eine Ruhezone von 25 m um sein Haus und dann noch in der Zeit von 20 Uhr bis 7 Uhr zu verlangen. Auch das zeigt doch, dass das Verhältnis der Nachbarn ausgesprochen feindselig sein muss.

Alle Instanzen haben die Klage abgewiesen. Der Konflikt der Nachbarn ist damit nicht gelöst worden, im Gegenteil: Der obsiegende Nachbar wird die Sektkorken knallen lassen und der unterlegene Nachbar wird auf Revanche sinnen. Es zeigt mal wieder deutlich, dass die juristische Methode in den seltensten Fällen Konflikte wirklich löst, weil sich die Juristen – und das ist systemimmanent – ausschließlich um den Sachkonflikt kümmern und diesen einer Entscheidung zuzuführen suchen. Der Sachkonflikt ist aber nur die Spitze des Eisbergs, der als Mittel dient, den tiefer liegenden Konflikt auszutragen (siehe mein Artikel „Das Eisberg-Modell oder warum Juristen Konflikte nicht lösen„).

In einem solchen Fall wäre sicherlich ein Mediationsverfahren der richtige Weg. Allerdings muss dann der (Konflikt-) Leidensdruck so hoch sein, dass sich die Beteiligten darauf einlassen. Ansonsten: Wenn sie nicht gestorben sind …

Die juristische Null

Nein, es geht hier nicht um einen Juristen, der sich durch besonders gute Kenntnisse hervorgetan hat. Mit dem Titel dieses Posts meine ich, dass die Juristen aufgrund ihrer Ausbildung meistens davon ausgehen, dass ein Rechtsstreit ein Nullsummenspiel darstellt.

Von einem Nullsummenspiel spricht man dann, wenn der Gewinn der einen Seite dem Verlust der anderen Seite entspricht und daher wenn man Gewinn und Verlust zusammengerechnet eine Nullsumme herauskommt.

Ein Zivilprozess ist ein typisches Nullsummenspiel. Es geht inhaltlich immer um einen konkreten Antrag. Gewinnt die eine Seite, wird die andere Seite einen entsprechenden Verlust erleiden. Diese Art des Denkens in Nullsummen bekommen sämtliche Juristen im Rahmen ihres Studiums antrainiert. Im Zivilrecht geht es immer nur um die Frage, wer bekommt was von wem woraus? Vergleiche kommen im Studium nicht vor.

Dieses Denken in Nullsummen bleibt dem Juristen auch eine Referendarzeit erhalten, da er in aller Regel Urteile schreiben muss, das sind Nullsummen-Entscheidungen. Bestenfalls erlebte er in der einen oder anderen mündlichen Verhandlung, dass Vergleiche abgeschlossen werden. Leider sind die meisten Vergleiche vor Gericht nichts anderes als Kompromisse, d.h. wir bleiben im gesetzten Rahmen der Nullsumme.

Aus diesem Nullsummendenken kann man nur ausbrechen, wenn man juristische Auseinandersetzungen nicht als reine Verteilungskämpfe begreift, in denen lediglich um eine begrenzte Ressource (meistens Geld) gestritten wird. Voraussetzung ist, dass man begreift, dass in aller Regel eben nicht nur um diese eine begrenzte Ressource geht, sondern dass es immer wieder daneben noch andere Interessen der beteiligten Parteien gibt, bei deren Einbeziehung in die Verhandlungen „der Kuchen größer“ wird und damit das Ergebnis eben keine Nullsummen mehr ergibt.

Schöne Theorie? Nein! Ein typisches Beispiel sind die Kündigungsschutzklage vor den Arbeitsgerichten. Eigentlich ein typisches Nullsummenspiel: Entweder ist die Kündigung gerechtfertigt oder sie ist unwirksam, dazwischen gibt es nichts. Dabei hier der Kuchen dadurch vergrößert wird, dass die Frage einer Abfindung in die Verhandlungen einbezogen wird, ist plötzlich Raum und Möglichkeit für eine Vereinbarung geschaffen, bei der unter dem Strich für beide Parteien mehr als Null herauskommt.

Es ist daher für jeden Anwalt sinnvoll, das Nullsummendenken einmal hinter sich zu lassen und zu überlegen, ob es im konkreten Fall nicht irgendwelche zusätzlichen Interessen gibt, die man in die Verhandlungen einbeziehen kann und aufgrund derer man in die Lage versetzt wird, nicht nur Kompromisse in der Form abzuschließen, dass einer gewinnt und einer verliert, sondern bei denen man echte Konsenslösungen schaffen kann, bei denen beide Parteien gewinnen.

Hierzu gehört aber auch, dass man als Rechtsanwalt nicht alles ausblendet, was außerhalb der Anspruchsgrundlagen des konkreten Anspruchs liegt. Hier muss man beim Mandanten einmal hinterfragen, welche wahren Interessen er hat. Oft finden sich hier Anhaltspunkte, die den Zugang zu einer Konsenslösung darstellen. Sei es auch nur das Interesse des Mandanten, die (Geschäfts-) Beziehung zu anderen Seite zufriedenstellend aufrechtzuerhalten. Oder es geht nur darum, die eigene Leistung gewürdigt zu sehen (das ist in manchen Fällen der Hintergrund einer Unterhaltsforderung).

In aller Regel handelt es sich bei einem Konflikt (und jeder Rechtsstreit stellt einen Konflikt dar) eben nicht um einen Streit um eine einzige begrenzte Ressourcen sondern in aller Regel handelt es sich um ein Konglomerat von Interessen, aufgrund derer man Konsenslösungen erarbeiten kann. Dies eröffnet ein weites Feld, die Mandanten wirklich zufriedenzustellen.

Nichts als die Wahrheit?

Es erstaunt immer wieder, dass Mediation und andere Methoden der ADR (Alternative Dispute Resolution) in Deutschland zwar bekannt sind, aber im Verhältnis wenig genutzt werden. Ganz anders im angelsächsischen Rechtsraum. Dort sind die ADR-Verfahren sehr weit verbreitet.

Meine bisherige Meinung dazu war, dass das deutsche Gerichtssystem gegenüber dem amerikanischen noch zu gut funktioniert. Wer sich die Rechtspraxis und die Qualität manches Urteils oder die Dauer manches Verfahrens ansieht, kann nicht so recht daran glauben.

Ein Artikel auf dem Business Conflict Blog über die Verbreitung von ADR in Frankreich hat mich auf eine andere Idee gebracht.

Der Unterschied liegt in der unterschiedlichen Grundeinstellung zu dem, was bei Gericht geschieht. Im angelsächsischen Bereich wird das Urteil des Richters bzw. der Geschworenen weniger als das Finden der einen reinen Wahrheit gesehen sondern vielmehr als der größeren Wahrscheinlichkeit und der besseren Argumente. Die Voraussehbarkeit von Urteilen ist weitaus geringer und dies wird auch nicht als Fehler gesehen. Die darunter liegende Sichtweise ist die, dass es die eine reine Wahrheit nicht gibt und dass (insbesondere bei der Beweisaufnahme) immer nur nach Wahrscheinlichkeiten gesucht wird.

Die Aufgabe der Gerichte bei uns ist auch nicht die des Problemlösens als vielmehr der Anwendung des vom Gesetzgeber vorgegebenen Rechts. Deshalb finden (Zivil-) Prozesse bei uns regelmäßig fast ausschließlich in schriftlicher Form statt. Die Parteien selbst haben kaum eine Möglichkeit, ihren Standpunkt, ihr Interesse und ihre Ansicht vorzutragen – meist stören die Parteien nur, weil sie unwichtige Argumente vortragen, die mit der (juristischen) Sache nichts zu tun haben.

Diese Ansicht, dass es das Gericht als Instanz gibt, das mir – weil ich ja sowieso recht habe – dann auch den Anspruch zuspricht, lässt andere Konfliktlösungsmethoden, die eventuell mit einem Nachgeben verbunden sind, unattraktiv erscheinen. Warum mit weniger zufrieden geben? Die beste Alternative zur Verhandlung ist ja bereits das, was ich als Maximum fordere!

Auch wenn die Realität anders aussieht (statistisch muss die Hälfte der Parteien verlieren), so verhindert die überoptimistische Bewertung der eigenen Rechtsposition in Verbindung mit dem Glauben an die reine Wahrheit des Gerichts ein Eingehen auf Verhandlungsalternativen. Deshalb gelingen auch bei Gericht Vergleiche immer erst dann, wenn der Richter beiden Seiten nacheinander erklärt hat, dass ihre Klage bzw. Verteidigung gegen die Klage keinerlei Aussicht auf Erfolg hat.

Juristen wissen zwar, dass sie vor Gericht und auf hoher See (dort sind sie seltener) in Gottes Hand sind. Das sollten auch die Parteien wissen, damit sie die Lösung ihres Konflikts in die eigenen Hände nehmen anstatt auf Gottes Hilfe zu warten.