Zwei Schwestern, Friederike und Hildegard, 35 und 37 Jahre alt, beide unverheiratet, leben noch im Elternhaus, das in landschaftlich reizvoller Gegend einsam auf einem Hügel steht. Die Familie besitzt kein Auto. Draußen regnet es in Strömen. Der Herbststurm pfeift um das Haus. Friedrike hat morgen Geburtstag und hat Ihren Kolleginnen und Kollegen versprochen, einen selbstgebackenen Kuchen mitzubringen. Sie will ein neues Rezept ausprobieren. Dazu brauchen Sie unbedingt die Schale einer Orange. Hildegard geht es an diesem Abend nicht gut. Der Hals kratzt, die Nase kribbelt. Sie fürchtet eine Grippe hat sie erwischt. Sie hat Heißhunger auf eine Orange. Das Vitamin C wird Ihr gut tun. Sie hofft so der drohenden Erkältung vorbeugen zu können.
Das ist der Musterfall, der bei jeder Vorstellung von Mediation erzählt wird (so oder in Abwandlungen). Die normale (Kompromiss-)Lösung sieht so aus, dass jede der beiden die Hälfte der Orange bekommt. Warum ist das die Normallösung? Es handelt sich hier um einen typischen Verteilungskonflikt. Beide sprechen ausschließlich über ihre Positionen (Ich brauche die Orange und will sie haben!). Beide gehen von einer begrenzten Ressource aus. Es gibt nur eine Orange, die zu verteilen ist. Bei (reinen) Verteilungskonflikten kann es keine konsensuale Lösung geben, da lediglich eine begrenzte Ressource verteilt werden soll. a ist kein Raum für eine Win-Win-Lösung, hir geht es nur über Win-Lose. Es ist letztlich ein Nullsummenspiel.
Warum kommt man über Interessen bei einem angeblichen reinen Verteilungskonflikt doch noch zu einer konsensualen Lösung. Fragt man die beiden Schwestern nach ihren Interessen, stellt sich ja heraus, dass die eine die Schale für den Kuchen und die andere das Fruchtfleisch wegen des Vitamins haben will. Und schon löst sich der Verteilungskonflikt auf. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen wird nämlich aus der einen einzigen Ressource (Orange) mehrere Ressourcen (Fruchtfleisch und Schale).
Das ist der Weg, der in der Mediation gesucht wird. Die Frage nach den jeweiligen hinter den Positionen stehenden, normalerweise unausgesprochenen Interessen vergrößert in aller Regel die Menge der zur Auswahl stehenden Lösungen (der Kuchen wird vergrößert). Reine Verteilungskonflikte sind nur über Kompromisse lösbar. Aber meistens handelt es sich nur scheinbar um einen reinen Verteilungskonflikt. In aller Regel gibt es eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, die es erlauben, den Kuchen zu vergrößern.
Das Problem ist nur, dass durch die weit verbreitete Denkweise in Ansprüchen, insbesondere bei uns Juristen, der Blick für interessengerechte Lösungen verloren geht. Für Juristen ist (zumindest im Zivilrecht) fast alles ein Verteilungskonflikt, weil alles auf den Anspruch reduziert wird.
Eine Antwort auf „Warum der Orangenfall über Interessen lösbar ist“
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